Die Schatten des Lichtes lieben lernen
„Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die schönen Stunden nur.“ lese ich als Spruch in meinem Stammbuch, das nach Volksschule riecht und muss jetzt, als erwachsene Yogini, darüber schmunzeln. Denn ja, die schönen Stunden geben uns Kraft und als lichthungriger Mensch hüpfe ich vor Freude, dass nach dem grauen Winter die hellen Jahreszeiten anstehen.
Doch um das Lichte und Leichte in unserem Leben intensiver wahrzunehmen und vor allem wertzuschätzen, braucht es den Gegensatz davon: das Dunkle, Schattige, Schwere.
Gerade die Yogawelt tendiert dazu, lieber das Positive als das Negative zu sehen, lieber Sonnen- als Schattengrüße zu machen. Wir suchen das Licht der Wahrheit, möchten hellsehende Menschen mit augenleuchtender Ausstrahlung sein und suchen Hilfe bei Gurus, Schriften und Yogamatten um Erleuchtung zu finden – am liebsten mit Lichtgeschwindigkeit. Damit will ich nicht anklagen, denn ich bin davon überzeugt, dass es sinnvoll ist Sonnengrüße zu machen und nach dem Lichten im Leben zu streben. Doch wie Marianne Williamson in ihrem Gedicht, das du am Beginn dieser yoga.ZEIT findest, sagt: „Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, das uns erschreckt.“ Warum dem so ist? Nun ich glaube, weil wir unser Licht erst dann wirklich lieben und erfassen können, wenn wir nicht nur über, sondern vor allem unsere eigenen Schatten springen …
Hier findest du eine kostenlose Meditation um deine Schatten freizulassen.
Looking for Shadows – Drama & Dharma
Die Angst vor der Dunkelheit liegt in der Ungewissheit. Vor dem, was wir nicht sehen, nicht verstehen können. Ich sage nur Kellertreppen.
Doch das Verborgene hat auch seinen Reiz. Schon C. G. Jung und Sigmund Freud waren wahre Schattensucher, Pioniere, die bewusst in die dunklen Bereiche der Seele vorgedrungen sind und Abgründe in tief vergrabene Schmerzen spürbar gemacht haben. Zorn, Wut, Trauer, Eifersucht, Ohnmacht oder Verzweiflung, um nur einige unserer Dramamomente im Leben zu nennen, sind wichtige Katalysatoren für ein erfülltes Leben. Das Wort „Drama“ bedeutet übrigens nichts anderes als „Handlung“ also das Vermögen in einem intensiven Konflikt zu Handeln. Die Ähnlichkeit zum Sanskrit-Wort „Dharma“, unsere Aufgaben oder Gesetze im Leben, ist nicht zu übersehen.
Noch zu Drama: In der Schauspielerei gibt es eine goldene Regel: tritt nie mit einem Kleinkind auf! Kinder sind vollkommen und werden als einnehmende Lichtgestalten jeden Schauspieler in den Schatten stellen. Aber wann haben wir eben jenes unschuldige Strahlen verlernt? Ab dem Schulalter sind Kinder als Partner auf der Bühne wieder gern gesehen. Jetzt sind sie sozialisiert, hat gelernt was richtig und falsch, akzeptabel und inakzeptabel ist. Der kleine Mensch hat gelernt, wofür er gelobt oder bestraft wird, wie die Gesellschaft funktioniert und … hat das Leuchten in seinen Augen gedimmt.
Jedes Mal wenn wir wahrnehmen, dass etwas „ungewollt“ oder „schlecht“ ist haben wir einen triftigen Grund es zu unterdrücken, abzulehnen oder zu ignorieren. Wir legen jede einzelne dieser Erfahrungen als Schatten in unserem Unterbewusstsein ab, das mehr Einfluss hat, als wir denken.
Paul Wazlawik hat uns ein sehr anschauliches Bild mitgegeben – das Eisbergmodell, das schon in den psychodynamischen Theorien Freuds zu finden ist.([1]) Es besagt, dass 20% eines Eisberges, der über dem Wasser zu sehen ist, dem Bewusstsein entsprechen. Die restlichen 80% sind unterbewusst – liegen unter der Oberfläche, im Dunklen. Trotzdem haben sie eine enorme Präsenz im Leben und beeinflussen alle unsere Beziehungen, Wünsche und Abneigungen. Heute wissen wir, dass unser Unterbewusstsein auf zwei Dinge reagiert: Bilder & Gefühle. Genau das werden wir später nutzen um Zugang zu diesen Themen zu erlangen.
[1] (s. Philipp G.Zimbardo / Richard J. Gerrig: Psychologie, 18. Auflage, 2008)
Reise ins Ungewisse
Zugegeben: die Auseinandersetzung mit der „dark side of life“ ist ein heftiger Brocken und viele Menschen zerbrechen daran, wenn die dunkle Seite der Macht überhand nimmt. Sie handeln nicht oder nur oberflächlich und jeder dunkle Fleck erscheint unerträglich. Dabei verlieren sie nicht nur den Bezug zur Realität, sondern vor allem zu sich selbst. Nicht umsonst heißt es in der deutschen Sprache „außer sich sein“ oder „aus der Haut fahren“, wenn uns das Leben zu sehr beutelt. Wenn uns in diesen Momenten die Kraft des Handelns fehlt oder abhanden kommt, haben wir eine sehr eingeschränkte Möglichkeit uns weiterzuentwickeln – das sagt schon die Bhagavad Gita (eine zentrale spirituelle Schrift, auch genannt die „Bibel der Hindus“). Setzen wir uns nicht mit unseren Schatten auseinander, finden wir die Ursache aller Probleme in unserer Umwelt. Viele wechseln lieber Job, Ehemann, Freundin, Wohnung, Sportart oder Religion anstatt ein Stück tiefer zu graben und Schattenthemen aufzulösen. Handeln braucht Mut und Kraft und ist ein mühseliger Weg ins Licht – aber wesentlich nachhaltiger und heilsamer als immer nur an der Oberfläche durch ein schales Licht zu stolpern, das keine Schatten wirft. Und ganz wichtig: du bist nicht allein.
„Tiefe Brunnen muss man graben wenn man klares Wasser will“ singt Rammstein in Rosenrot. Bringen wir den Mut auf in die Tiefe unserer Dramen zu graben werden wir vermutlich unsere Abgründe kennenzulernen, aber Klarheit ernten.
Denk positiv – Echt jetzt?
Sowohl in der Psychologie als auch bei spirituellen Lehrern herrscht Uneinigkeit über die Effektivität der Integration unserer Schattenseiten. Das Gesetz der Anziehung würde sagen: wenn deine Aufmerksamkeit auf dunkle Themen gerichtet ist, wirst du mehr Schatten entwickeln und entdecken.
Andererseits müsste ein rein positiver Fokus der Gedanken einen absolut glücklichen Menschen entwickeln. Es sollte also jemand, der einen wunderschönen und reinen Gedanken hat absolut glücklich sein. Trotzdem sehen wir aber, dass auch Menschen die ihren Fokus auf das Licht legen oder sich wenigstens die meiste Zeit um ihre positiven Gedanken und Klarheit bemühen, von den Schattenseiten des Lebens eingeholt werden. Große Lichtarbeiter unserer Zeit wurden und werden angefeindet und bedroht. Gandhi und Martin Luther King wurden ermordet, Nelson Mandela musste 27 Jahre seines Lebens hinter Gittern verbringen, Malala wurde angeschossen, die Gegner des Dalai Lama lassen keine Gelegenheit aus ihren Zorn in die Welt zu posaunen.
Natürlich ist Walzlawiks Eisberg unter der Oberfläche groß und beginnt man erst mal sich mit seinen unterbewussten Themen auseinanderzusetzen, wird man vermutlich einige interessante „Unwillkommenheiten“ entdecken. Meiner Erfahrung nach, verhält es sich mit der Yogapraxis jedoch wie mit dem Geschirrspülen: Man muss genau hinschauen um allen Schmutz zu entdecken, aber gespült ist gespült. Das Geschirr vermehrt sich nicht umso mehr man spült. Also keine Angst: Durch die Arbeit an deinen Schattenthemen werden sie sich nicht vermehren sondern auflösen.
Licht und Liebe zu üben, die Gedanken kontrollieren und lenken ist eine wunderbare und hoch effektive Praxis! Aber ACHTUNG: Es macht einen großen Unterschied, ob du den Gedankenfokus auf Positives legst um das Leben in eine positive Richtung zu lenken, oder ob du dich lieber auf Positives konzentrierst, um von unangenehmen Themen abzulenken. Wenn wir Themen unterdrücken, werden sie im Regelfall noch schlimmer. Sie sind dann wie kleine Kinder, die dir unbedingt jetzt, unbedingt jetzt, unbedingt jetzt etwas sagen wollen. Gleich. Also gleich. Also jetzt. So wächst der Eisberg unserer Schatten unter der Wasseroberfläche weiter und wir treiben unkontrolliert – oder besser unwissend – durch’s Leben.
Bei all den strahlenden, vor Kraft und Freude strotzenden Yogi-Posts auf Facebook habe ich mich schon manchmal gefragt ob ich etwas falsch mache in meiner Yoga Praxis. Denn mein Leben ist deutlich intensiver und anstrengender geworden seit ich den Yoga Weg eingeschlagen habe. Ich würde fast sagen, ich habe die Büchse der Pandora geöffnet. Mittlerweile bin ich mir sicher: Yoga ist ein Karma-Beschleuniger, dazu da, uns tiefer im Dreck unseres Daseins graben zu lassen. Aber nun die positive Seite: Yoga hilft erheblich Herausforderungen früher zu erkennen und schenkt die Kraft, sie zu lösen.
Deine Schatten finden und nützen – eine Anleitung in 8 Schritten
„Schattenarbeit“ ist Dank Rüdiger Dahlke ein geläufiger Begriff geworden. Jedoch: wie kann ich meine Schatten integrieren oder noch besser transformieren wenn meine Kollegin mich auf die Palme und mich das unaufgeräumte Kinderzimmer zur Weißglut bringt?
- Finde deinen Schatten!
Nutzen wir also diese Möglichkeiten um Licht ins Dunkel zu bringen.
Eine Übung: Deine beste Freundin spricht hinter deinem Rücken über dich und merkt nicht dass du zuhörst. Was müsste sie über dich sagen um dich völlig in Rage zu bringen?
Gratuliere! Schatten gefunden. Nun geht es daran, die Ursache dieses Schmerzes zu suchen. - Erkenne deine Trigger
Was passiert um dieses Gefühl auszulösen? Ein Wort, eine Handlung, sich unverstanden oder ungehört fühlen reichen oft aus um in eine Welt abzurutschen mit der man sich nur ach so gerne nicht auseinandersetzen möchte. Es ist wichtig zu erkennen, dass der „Nachrichtenüberbringer“ nicht die Ursache ist, sondern nur ein Trigger. - Mach einen Schritt zurück und beobachte
Lokalisiere die Emotion / das Gefühl / die Wahrnehmung im Körper und gib ihr einen Namen. So schaffst du erste Distanz zwischen dir und dem „Drama“. Alles darf da sein und Zeit haben wahrgenommen zu werden. - Sei ehrlich
vor allem zu dir selbst. Sobald du in der Lage bist die Wahrheit anzunehmen und den Widerstand loslässt, wird unglaubliche Energie freigesetzt die bislang zum Verbergen deiner so genannten „dunklen“ Qualitäten gebraucht wurde. Erst dann kann Authentizität und Freiheit im Außen entstehen.
Wer weiß: vielleicht ist genau das was du so dunkel empfindest für andere ein strahlendes Licht? - Nicht davonlaufen
Es braucht jetzt keine intensive Trainingseinheit und auch keine Zigarette. Nimm dir ein paar Augenblicke Zeit, atme, beobachte und geh tiefer
Wann hast du so etwas das letzte Mal gefühlt?Wann hast du so etwas das allererste Mal gefühlt?
In welcher Situation? Kannst du dich an Personen, Umgebung, Gerüche erinnern?
Was kannst du aus dieser Situation lernen? Welche Handlungen darfst du ab jetzt in deinem Leben setzen? - Setze einen neuen Fokus für dieses Thema
So wie du in deinem Radio die Frequenz änderst um andere Musik zu hören, so hast du hier die Möglichkeit deine persönliche Frequenz zu ändern in dem du den Fokus mit einem positiven und lichtvollen Glaubenssatz ersetzt.
Kontrolliere den Satz indem du hineinfühlst. Fühlt er sich gut an: schreib ihn dir auf! - Sei Dankbar
Jeder Schatten und jeder Trigger verbirgt die Möglichkeit ein Stück Dunkelheit in Kraft und Ausstrahlung umzuwandeln. Nicht alle Herausforderungen werden sich beim ersten Versuch in Luft und Licht auflösen! Jedoch bringt die regelmäßige Übung immer mehr Sicherheit in deinen Entscheidungen (Viveka) und den Mut die Verantwortung für all jene Situationen zu übernehmen die dich herausfordern. - Sei nicht perfekt! Sei brillant
Perfektion ist die Abwesenheit von Fehlern – das lernen wir schon in der Schule, in der nur Fehler angestrichen werden. Der Druck perfekt zu sein, bindet viel Energie und bringt uns in eine Verteidigungshaltung. Perfektionismus glänzt nur an der Oberfläche. Niemand hat eine immer strahlende Familie, perfekte Kinder und endlos Erfolg im Job. Sei nicht perfekt, zelebriere auch die Möglichkeiten an Fehlern zu Lernen und dich zu entwickeln. Authentizität bringt die Freiheit jene Eigenschaften und Fertigkeiten zu entwickeln die dich leuchten lassen. Damit unmittelbar verbunden ist die Freude und eine ansteckende Leichtigkeit – En-Light-Ment.
Wir bewegen uns das ganze Leben lang zwischen den zwei Kräften Licht und Schatten, fühlen uns sogar manchmal darin gefangen. Ohne Licht kein Schatten, ohne Schatten kein Licht! Der Fluss zwischen den beiden Polen ist unser Prozess der Transformation. Diese beiden Gegensätze kreieren Grenzen, Struktur und letztlich unseren ganz persönlichen Weg, unser Dharma und manchmal unser Drama. Sie zeigen uns die Möglichkeiten zu unserem „Personal Best“ auf. Yoga ist für mich das Gaspedal auf dem Weg ins Licht, aber der Weg führt nicht vorbei am Dunkeln, sondern mitten durch.
Vera Birkenbihl hat in einem ihrer Vorträge vermittelt: das englische Wort für Erleuchtung „en-light-ment“ gibt uns einen kleinen Hinweis wohin die Reise geht, denn schließlich kann das englische „light“ sowohl für „Licht“ als auch für „leicht“ stehen. Mit der Annahme jedes kleinen oder großen Schattens, erreichen wir ErLEICHTerung und kommen dem großen Ziel der ErLEUCHTung und Freiheit etwas näher. Und mal ehrlich: allein Erleichterung im Leben ist doch auch schon sehr viel, oder?
Ein wichtiges und archaisches Mantra drückt diesen Wunsch nach Licht und die damit vermutete Befreiung aus.
Om Führe uns vom Unwirklichen zum Wirklichen,
von der Dunkelheit zum Licht,
von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit.
Om Friede Friede Friede
Zum Weiterlesen
Die Schattenreise ins Licht – Wie wir Depressionen überwinden/ Ruediger Dahlke
Licht für’s Leben – Die Yogavision eines großen Meisters von B.K.S. Iyengar
Im Dunklen – Mein Leben ohne Licht von Anna Lyndsey
Das Licht in dir – Wie wir die größte Lebenskraft für uns nützen von Siglinda Oppelt
Einfach wunderbar. Ehrlich. Schönheit im Sein…vor allem im Sehen und Akzeptieren des Schatten-da-sein. LOVE IT!